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Seit einer Woche suche ich nach Worten und Möglichkeiten. Ich schreibe Nachrichten, ich schreibe: Wie ist es am Meer? oder Can I come by in July and we’ll eat ice cream? oder Gestern im Wald, da dachte ich an dich. Ich schreibe einige Zeilen, manchmal einen Absatz, aber dann lösche ich alles wieder und bleibe stumm, denn der Satz, der mein Leben gerade beherrscht hat keinen Platz in diesen Schreiben, er klingt immer falsch und ist es aber nicht. Der Satz heißt: Mein Vater ist gestorben.
Und seit einer Woche ist er wahr.

Wenn ich den Satz doch sage oder schreibe, dann schlagen die Menschen oft ihre Hand vor den Mund oder schütteln den Kopf. Ich kenne diese Reaktion, sie war die meine vor sieben Tagen, die sich anfühlen wie sieben Jahrzehnte. In der Zwischenzeit ist soviel geschehen, dass ich diese Reaktion nicht mehr mit meiner Situation in Verbindung bringen kann, sie wirkt wie eine Nachricht aus längst vergangenen Zeiten, wie etwas von dem man mal gehört, es aber fast vergessen hat.    Wenn die Menschen dann so reagieren, dann erinnert es einen daran und man möchte nicht erinnert werden. Man möchte nie wieder in diesem Moment sein, in dem jemand sagt „Etwas schlimmes ist passiert“, man möchte auch nicht selber diejenige sein, die das sagen muss. Es ist der grässlichste Wissensvorsprung, es ist das dunkelste Geheimnis, ein solches, das man nicht haben möchte, das aber nicht ungeschehen wird, und welches man deswegen aussprechen muss, auch um es selbst zu begreifen.

An diesem Freitag vor dreihundert Sommern, als ich lernte, dass man innerhalb von sechs Stunden von Ludwigsburg in die niederösterreichische Provinz reisen kann, an dem ich mich kurze Zeit in der selben Stadt aufhielt, wie meine beste Freundin, es ihr aber nicht sagen konnte, da es nicht ihr Geburtstag war, der mich dort hingebracht hatte, sondern der Tod meines Vaters. An diesem Freitag, der sich witzlos auch noch der dreizehnte nannte, an diesem Freitag, an dem mein Bruder auf einem Musikfestival seine Matura feiern wollte während mein anderer Bruder bereits von der Schrecklichkeit des Tages wusste, da suchte ich beinahe ohne Unterlass nach Menschen, die es vielleicht noch nicht wüssten. Ich klammerte mich daran, jemanden zu finden, dem ich es sagen kann um es dadurch selber verstehen zu können. Ich dachte, wenn ich es ausspreche, diesen Satz, dann wird es wahr. Ich wählte schließlich eine Nummer. Ich ging dafür in das Zimmer meines Bruders, ich setzte mich an die Bettkante, ich stand wieder auf. Es läutete, eine Frau hob ab, sie verstand nicht gleich wer ich bin und ich legte ohne diesen Satz auch nur gedacht zu haben wieder auf. Ich sagte noch, ich rufe morgen nochmals an. Am nächsten Tag bereits hatte ich zuviel Angst davor.

Damals noch war es Angst vor mir selber, davor, dass ich keine Luft bekommen könnte oder etwas falsch verstanden haben könnte, dass ich, die ich ja nur die Tochter bin, die weit weg wohnt, gar nicht das Recht dazu habe, diese Nachricht zu überbringen. Mittlerweile hat sich die Angst gewandelt, sie ist anders geworden, sie ist eine Angst vor dem Moment an sich, davor, dass es einen zurück katapultiert, dass man die ganze Woche nochmals durchleben muss.

Also schreibe ich Nachrichten, heute Nachmittag zum Beispiel: Dear L., I hope your day was as lovely as you are and that we will see each other soon. What about next month? Our next meeting should include at least two bridges, a seagull and the word dromedary. Love, M. Das ist eine Nachricht, die ich ernst meine, die ich so senden möchte, aber es nicht tue, weil dieser Satz da nicht reingeht, in keiner Sprache macht er das. Nicht an den Anfang und nicht in die Mitte und auch nicht als PS. Dieser Satz, der mich so müde macht, dieser Satz von dem ich eine Pause möchte, dieser Satz der sich nie wieder ändern wird. Einen Satz, den man wenn dann nur schreiben kann, wenn man andere daran hängt. ( Zum Beispiel: Mein Vater ist gestorben. Er war 57 Jahre alt. Da stirbt man normalerweise nicht, ich weiß. oder Mein Vater ist gestorben. Sein Tod ist nur eines der vielen Dinge, die ich nicht an ihm verstehe. oder Mein Vater ist gestorben. Einfach so, an einem Morgen, an dem er eine halbe Stunde alleine zuhause war. ) Aber eigentlich auch dann nicht.

Wenn ich den Satz aber doch einmal schreibe oder in ein Telefon sage, dann fragen die Menschen, wie sie mir helfen können. Die letzten Tage, haben mich gelehrt, dass die physische Anwesenheit von Menschen eines dieser Dinge ist, die helfen. Vielleicht ist es auch das einzige das hilft. Knie, die man berühren kann, Hände, die man halten kann, Schlüsselbeine, die man nachfahren kann und Schultern, an die man sich lehnen kann. Und auch deswegen fällt es so schwer diesen Satz zu schreiben. Da das Schreiben an Menschen immer von ihrer Abwesenheit zeugt. Und weil Abwesenheit etwas ist, wovon es zuviel gibt in diesen Tagen, in denen wir anfangen von einem Menschen in der Vergangenheit zu reden, von dem wir noch vor kurzem dachten er hätte eine Zukunft. Ein Mensch der sich eine Laube in den Garten baute um dort auf den Herbst zu warten. Ein Mensch der ein Vater war, 30, 26 und 19 Jahre lang. Zählt man das zusammen ergibt das ein Alter in dem man vielleicht anfangen könnte über den Tod nachzudenken. Aber nicht mit 57. Nicht im Juni, nicht an einem Tag, an dem ich um sieben aufwachte, ein Glas Wasser trank und dann noch bis acht weiterschlief, ohne zu wissen, ohne zu spüren, ohne zu ahnen, was in dieser Stunde Realität geworden war. Beschissene, ungerechte, verdammte, scheiß Realität.
Anders kann man das nicht sagen.

Eine Insel ist eine Heimat ist eine Insel

Seit drei Wochen ist Henry tot. Ich fand ihn in der Scheune unweit des Hauses, er lag da so und anfangs dachte ich kurz, dass er nur schläft. „Henry“ sagte ich, „Henry, komm steh, auf, das Essen ist fertig.“ Aber Henry bewegte sich nicht, er reagierte nicht und bereits in diesem Augenblick wusste ich: Das wird nie wieder gut. Ich sagte noch: „Es gibt Lammeintopf, es gibt Bohnen dazu. Ich habe auch einen Kuchen gebacken.“ Aber ich dachte bereits: „All das gibt es zum letzten Mal, all das werde ich nie wieder kochen, nicht für mich alleine und niemals mehr für dich.“

Ich drehte mich dann um, ich ging zurück zum Haus, es waren 68 Schritte, ich zählte einen jeden. Ich setzte mich an den Küchentisch, ich stand wieder auf, ich nahm Henrys Teller und stellte es in die Spüle, ich setzte mich wieder an den Tisch, ich stand wieder auf, ich nahm Henrys Teller und stellte es in den Schrank. Ich stellte mich danach ans Fenster und beobachtete die Wolken, sie zogen vorbei, als wäre nichts geschehen und für einen Augenblick dachte ich, dem wäre auch so.

Liv kam vorbei. „Wo ist denn Henry?“ fragte sie. „In der Scheune“ antwortete ich und Live verstand wohl mehr als ich, sprang auf und rannte die 88 Schritte, denn ihre Beine sind kürzer als meine, rannte dorthin, schrie kurz auf, rannte aus der Scheune, blickte zum Fenster, hinter dem ich immer noch stand, blickte zu mir und ich blickte zurück, ich wiederholte „Das wird nie wieder gut.“ Liv konnte das nicht hören, aber das änderte nichts.

Zwei Tage lag Henry noch in dieser Scheune. Ich besuchte ihn manchmal. Ich setzte mich neben ihn und sagte, dass das Wetter und die Wellen sich beruhigt hätten, dass bestimmt bald ein Arzt vom Festland hier auftauchen würde, er wäre schon auf dem Weg. „Das ist nicht so schlimm, Henry“ sagte ich auch, „Das ist nicht so schlimm, an das Warten müssen wir uns jetzt gewöhnen. Das ist wie eine Probe, das schaffen wir schon.“ Danach verließ ich ihn wieder, ging zur Anlegestelle und starrte auf das Wasser, auf dem irgendwann ein Boot auftauchen sollte, und mit ihm ein Arzt und mit ihm die Einsicht, dass all das gerade wirklich passierte.

34 Stunden, nachdem ich Henry zum ersten Mal in der Scheune liegend sah, war das tatsächlich der Fall. Der Arzt schüttelte meine Hand, sie war weicher als meine, er blickte mir in die Augen und folgte mir ohne ein Wort zu sagen zunächst zu Henry, seufzte dort kurz und später in das Haus, wo er sich mir am Küchentisch gegenübersetzte und wieder seufzte, ein wenig zu lang. Das war wohl das Herz, meinte er und das Alter. Das war wohl der richtige Zeitpunkt, keine Schmerzen, kein Bewusstwerden dessen, was gerade passierte, keine Angst. Er füllte einen Zettel aus, während er das sagte und reichte ihn mir später. Einen Zettel, der bestätigt, dass Henry tot ist, dass wir ihn begraben dürfen, unweit der Kirche. Ich las ein jedes Wort genau, ich blickte zum Arzt. Ich sagte: „Jetzt ist es vorbei.“

Der Arzt verließ die Insel eine Stunde später, er zog seinen Hut, als das Schiff ablegte. Liv weinte und ich nahm ihre Hand. Wir gingen den kurzen Weg zum Friedhof, wo schon die anderen acht warteten. Wir nahmen die Schaufeln und gruben ein Loch. Robert hatte einen Sarg gezimmert, Mary hatte ein paar Blumen gesammelt, Keith läutete die Kirchenglocke und über den Hügel kamen langsam Albert, Thomas, Paul und Charles. Auf ihren Schultern diese Truhe, in ihr dieser Mann, der einmal sagte: „Diese Insel werde ich  nie wieder verlassen.“ Und der dabei nicht gelogen hatte und das vielleicht schon wusste.

Wir sangen ein Lied, wir sangen noch eines. Wir bekreuzigten uns und es begann zu regnen. Ich schüttelte dreizehn Hände, ich küsste acht Wangen, ich legte meinen Kopf an eine Schulter, ich tat das vier Sekunden, dann nickte ich kurz und die anderen taten es mir gleich. Die Menschen und ihre sechsundzwanzig Hände folgten mir den schmalen Weg zurück zum Haus und versammelten sich später in dieser Küche, die plötzlich nur noch die meine war. Sie tranken Tee, wir sprachen nicht viel. Irgendwann wurde es dunkel, irgendwann wurde es Nacht. Draussen brachen die Wellen an den Klippen, eine Möwe schrie.
Es dauerte noch drei Tage und auch Albert würde sterben, noch vier Monate und auch Paul war tot. Noch ein Jahr und Liv würde zurück aufs Festland kehren. Noch ein Jahr mehr und Ludmilla würde nicht mehr erwachen. Noch drei Jahreszeiten dazu und die Insel wäre nur noch eine Insel, wäre keine Heimat mehr und trotzdem immer noch da.

Das wussten wir noch nicht in dieser Nacht, in der das Sterben begann. Das ahnten wir vielleicht, auch am nächsten Morgen taten wir das noch. Da schien kurz die Sonne und die Männer fuhren zur See. ich kochte Tee und dachte an Henry, der hinter diesem Hügel lag, acht Monate länger als ich.